Klartext – liebe Carmen, wie würdest Du Dein berufliches Neuland genau beschreiben?
In meinem alten Job als Assistentin der Geschäftsleitung hatte ich ausschließlich mit betriebswirtschaftlichen und kaufmännischen Fragestellungen zu tun. Irgendwann genügte mir das nicht mehr, ich war auf der Suche nach neuen Herausforderungen, nach mehr Selbstbestimmung und vor allem einer „Sinnhaftigkeit“ bei dem, was ich tue. Da bin ich durch einen Zeitungsartikel auf das Berufsbild des Schriftdolmetschers gestoßen und habe mich schnell entschieden, berufsbegleitend eine Ausbildung zu absolvieren. Meine Festanstellung habe ich 2014 gekündigt und bin seitdem freiberuflich als Schriftdolmetscherin tätig. Die Fragezeichen auf der Stirn der Leser kann ich schon sehen. „Schriftdolmetschen, was ist das?“ Die Antwort ist ganz einfach: Ich helfe zu verstehen! Für Menschen mit Hörschädigung ist die Teilhabe in Beruf und Alltag oft schwierig und belastend. Als Schriftdolmetscherin sorge ich in diesen Situationen für Klarheit und Verständigung. Am Computer schreibe ich in Echtzeit mit, was gerade gesprochen wird. Dabei gebe ich das Gesagte originalgetreu wieder oder fasse so weit zusammen, dass alle Aussagen im Kontext sinngemäß erhalten bleiben. Ich arbeite vorwiegend für schwerhörige oder spätertaubte Menschen, die lautsprachlich orientiert sind und / oder keine Gebärdensprache beherrschen. Durch meine Arbeit lasse ich diese Kunden unmittelbar an der Kommunikation teilnehmen und teilhaben – egal ob im Vier-Augen-Gespräch oder im Konferenzsaal. Und dank Internettechnologien auch im Rahmen von Online-Einsätzen ohne räumliche Einschränkung.
Motivation – Was treibt Dich an?
Jeder Mensch sollte immer und überall das Recht haben, an Kommunikation teilzuhaben. Was für „Normal-Hörende“ ganz selbstverständlich ist, ist für Menschen mit Hörschädigung oft eine Hürde. Diese Menschen zu unterstützen, macht mir unglaublich viel Freude. Außerdem sehe ich es als meine Aufgabe an, gemeinsam mit meinen Kolleginnen die Öffentlichkeit und auch betroffene Menschen über das Thema Barrierefreiheit und Kommunikationsunterstützung zu informieren und dafür zu sensibilisieren.
Überwindung – Wovor hattest Du Angst? Bzw. was hat Dich anfänglich zurückgehalten, Deine Idee zu realisieren?
Der Gedanke, einfach so meine Anstellung und damit meine „sichere Bank“ aufzugeben und in ein komplett neues und unbekanntes Thema zu starten, war zu Beginn beunruhigend. Aber nachdem ich die Entscheidung getroffen hatte, fühlte ich eine unglaubliche Erleichterung. Und das fühlt sich bis heute noch sehr gut an.
Unterstützer – Wer oder was hat Dir geholfen, Dein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren?
Mein Mann Roland hat mich von Anfang an unterstützt und in der Idee bestärkt, etwas Neues auszuprobieren, und mir finanziell den Rücken freigehalten. Außerdem tauschen wir uns oft und intensiv zu meiner Arbeit aus. Seine Einschätzung, seine Denkanstöße und sein Blick von außen helfen mir sehr, auch wenn es mal nicht so rund läuft. Meine Kolleginnen der Schriftdolmetscher Saarland, die wie ich freiberuflich tätig sind, sind mir ebenfalls eine wichtige Stütze. Wir sind ein tolles Team und gemeinsam unterwegs, um das Schriftdolmetschen weiter nach vorne zu bringen.
Stolpersteine – Welches Talent hat Dir über schwierige Phasen hinweg geholfen? Und was hast Du daraus gelernt?
Obwohl das Thema Inklusion heute in aller Munde ist, muss man ganz schön dicke Bretter bohren, um das Schriftdolmetschen bekannt zu machen und den Rechtsanspruch hörgeschädigter Menschen durchzusetzen. Meine Beharrlichkeit und mein Durchhaltevermögen helfen mir, jeden Tag ein Stückchen weiter zu machen. Das gibt mir ein stabiles Gerüst auch in Zeiten, in denen es mal nicht so gut läuft. Ich habe gelernt, dass durch das stetige Tun Dinge in Bewegung kommen, vielleicht nicht immer gleich und manchmal in eine andere Richtung als gedacht, aber es entwickelt sich immer etwas. Hilfreich bei meiner Arbeit sind mir auch meine Erfahrungen aus dem betriebswirtschaftlichen Bereich und meine IT-Affinität.
Erfolg – was war der schönste Moment?
Den einen Moment kann ich nicht benennen. Es gibt viele schöne Momente in meiner täglichen Arbeit, denn das Feedback meiner Kunden bekomme ich meist ganz unmittelbar während oder nach einem Auftrag. Entweder weil Sie gespannt meiner Mitschrift folgen, sich dadurch aktiv an Gesprächen beteiligen können oder mir ganz direkt mitteilen, dass Sie meine Arbeit sehr schätzen.
Neuland – Was hättest Du auf Deinem Weg nie für möglich gehalten?
Für unmöglich habe ich eigentlich nichts gehalten. Aber es überrascht mich immer wieder, in welch teilweise sehr speziellen Themen ich mittlerweile durch meine Kunden Kompetenz aufgebaut habe, zum Beispiel durch die Begleitung von Studenten bei ihren Vorlesungen.
Neuorientierung – Welche drei Tipps gibst Du Gleichgesinnten mit auf den Weg?
Mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gehen, mit Menschen sprechen und ihnen zuhören.
Einfach anfangen, etwas zu machen, etwas Neues ausprobieren und auch etwas wagen.
Nicht aufgeben, wenn es auf Anhieb nicht der richtige Schritt war, weitersuchen. Es wird sich etwas finden.
Ressourcen – Was ist Dein Lebensmotto?
Das, was Du tust, solltest Du gerne tun. Und wenn es sich nicht mehr gut anfühlt, ändere etwas. Arbeit und Beruf sind ein ganz wichtiger Bestandteil. Mein Leben ist zu kurz für eine Arbeit, die mich nicht ausfüllt und erfüllt.
Zukunftspläne – Was ist Dein nächstes Projekt?
Mein Wunsch ist es, ab dem nächsten Jahr das Schriftdolmetschen auch in „leichter Sprache“ anbieten zu können. Außerdem möchte ich mittelfristig Menschen in englischer und französischer Sprache begleiten können. Mein größtes Projekt ist aber die Zusammenarbeit mit meinem Mann Roland. Auch er ist seit August 2016 selbständig, und wir sind gemeinsam als Kontextpartner (Website wird in Kürze aktiviert) unterwegs. Roland bringt als Informatiker in der IT-Beratung und Daten-Analyse sein Know-how ein, und wir möchten unsere unterschiedlichen Angebote vernetzen, bündeln und ausbauen. Eine spannende Herausforderung.
Inspiration – Wer oder was hat Dich inspiriert (Vorbilder, Bücher, etc.)
Auch wenn ich gerne und viel lese, inspirieren mich die Menschen, die ich treffe, am meisten. Auch die, die etwas ganz anderes tun als ich und vielleicht eine andere Denk- und Herangehensweise an Themen und Fragestellungen haben.
Freizeit – wo trifft man Dich?
Ein schöner Ausgleich zur Arbeit ist für mich die Musik und das Musizieren, wobei ich richtig abschalten kann. Da ich gemeinsam mit meinen beiden Töchtern im Orchester spiele, und mein Mann als unser größter Fan sehr oft dabei ist, ist das gleichzeitig wertvolle Familienzeit für mich. Außerdem treffe ich mich sehr gerne mit lieben Freunden, sei es bei einem gemütlichen Essen und einem leckeren Glas Wein oder einer ausgedehnten Wanderung.
Liebe Carmen,
chapeau!!! Ich bin schwer beeindruckt, wie zielstrebig, erfolgreich und (im besten Wortsinn) unaufgeregt Du gewissermaßen Pionierarbeit für Schwerhörige leistest. Dein Schulterschluss mit Kolleginnen und die gemeinsame Vermarktung sind absolut vorbildlich & zeugen für mich von wahrer Souveränität jenseits von “Stutenbissigkeit” und Konkurrenzdenken. Dein ansteckender Enthusiasmus für “was Eigenes” hat ja auch Deinen Mann ereilt – wer weiß? Vielleicht infizierst Du ja auch die ein oder andere Leserin…:-)
Vielen Dank für diese erhellenden Einblicke, liebe Carmen!